Ansicht vorne
Inv. Nr.S-1942
KünstlerAndreas Mühegeb. 1979 in Karl-Marx-Stadt, Deutschland
Titel

"Sissi"

aus der Serie: "Obersalzberg"
Jahr2012
Technik

C-Print

Bildgröße12,7 x 10,2 cm
Auflage1/7 (+ 3 a.p.)
Kommentar

Primärinstinkte
Die Berge sind mächtig, der Wald dunkelt, die Uniform sitzt. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Die Perfektion dieser Bilder ist zwiespältig, denn die Zeichen, die Andreas Mühe in ihnen versammelt, sind vergiftet. Der Berg ist nicht irgendein Berg. Die Uniform ist nicht irgendeine Uniform. Nazis am Obersalzberg: Das ist unmöglich, daneben, unerhört. Was will ein Fotograf da heute noch? Mühe sagt: „Mich interessiert Macht.“
Andreas Mühe bringt Berg und Wald und Uniform in scheinbar affirmativer Geste zusammen, um sie gleichzeitig ins Ironische aufzubrechen. Denn wer genau hinschaut, erkennt, dass die SS-Männer, die hier ins Bild gerückt sind, in die erhabene Landschaft urinieren. Manchmal ist der winzige Uniformierte zu gut getarnt vom wirren Geäst um ihn herum. Manchmal ist der Glanz der Berge zu einnehmend, um sich von der zur Schau gestellten Notdurft stören zu lassen. Man muss schon sehr genau hinschauen, um den Urinstrahl zu sehen. Manchmal wird er durch die Sonne gebrochen. Doch er ist da. In diesem Augenblick verwandelt sich das Bild: Die seltsame Intimität der privaten Geste, deren Zeuge der Betrachter scheinbar zufällig wird, unterläuft den Bombast dessen, was darum herum behauptet wird.
Diese Fotografien sind eine Provokation, die manchem zu ausgeklügelt sein mag. Doch in ihrem Anschluß an berühmte Affronts der jüngeren Kunstgeschichte offenbart sich mehr als ein kontextuelles Augenzwinkern des Fotografen. Die „Pissing Nazis“ lassen sich in Bezug zu Warhols „Piss Paintings“ ebenso lesen wie zu Wolfgang Tillmans’ ins Studio urinierendem Punk. Mühes Nazis sind so erstarrt wie Andres Serranos „Piss Christ“, der in Urin statt in Formaldehyd eingelegt wurde. Und in gewisser Weise ist es ebenso die vom Fotografen inszenierte Provokation, die das Foto plötzlich vom Monumentaltheater in ein konzeptuelles Denkbild verwandelt.
Haltung, Perfektion, Körperspannung – bei den „Pissing Nazis“ ist der männliche Muskelpanzer, den Wilhelm Reich beschrieb, ganz bei sich selbst. Von der vom Autor in Aussicht gestellten orgasmischen Erleichterung sind diese Männer in der monumentalen Umgebung und der Steifheit ihrer Uniformen jedoch weit entfernt. Immerhin: sie erlauben sich einen Moment der Schwäche und pissen in die majestätische Landschaft.
Auch in den neueren „Obersalzberg“-Motiven Andreas Mühes geht es um Haltung, Befindlichkeit, Inszenierung und Außenwirkung. Der Fotograf inszeniert Nazis unterschiedlichen Ranges, die sich gegenseitig fotografieren: Hier entsteht bereits das Bild im Bild im Bild einer wahnhaft gesteigerten oder auch pubertär überhöhten Wahrnehmung der eigenen Geltung. Wer vermöchte abschließend zu beurteilen, welche Palette von Primärinstinkten in den Inszenierungen der Nationalsozialisten wachgerufen und befriedigt wurde? Was in den illuminierten Spektakeln der Macht, in den Reden und Gesten der Nationalsozialisten wissentlich und was unbewusst war, darüber lässt sich bis heute spekulieren. Über Effekt und Eindeutigkeit der Zeichen hingegen, welche die Fotografie zu spiegeln imstande ist wie kein anderes Medium, lässt sich nicht räsonieren. Die Kaiser des Wilhelminischen Reiches inszenierten sich in Gemälden; die Nationalsozialisten nutzten wie niemand vor ihnen in der Geschichte Film und Fotografie für ihre Zwecke.
Andreas Mühe konzentriert all das in einem einzigen Foto: Ein SS-Mann im weißen Sommerrock lässt sich vor dramatisch dunklem Himmel von einem Untergebenen fotografieren. Der Betrachter sieht von ihm nicht viel außer einem durchgedrückten Rücken, dem angewinkelten Arm und den heruntergezogenen Mundwinkeln. Sie vermitteln alles, was man wissen muss. Die Fotografie Andreas Mühes interessiert sich für die Macht und die Leere einer Pose, die Wirkung und Formelhaftigkeit einer Haltung. Der Körper bestimmt hier das Bewusstsein: In der nationalsozialistischen Kultur sollte alles neu definiert und neu erfunden werden – Gehirnwäsche mit großer Geste.

In der „Obersalzberg“-Serie eröffnet Mühe ein neues Feld des Nachdenkens über den Einfluss der Fotografie auf die Ästhetik der Nationalsozialismus, aber auch anderer totalitärer Regimes. Die mit Bühnenbildnern wie Benno von Arent, Filmleuten wie der Regisseurin Leni Riefenstahl und dem Kameramann Walter Frentz und Architekten wie Albert Speer entworfenen Kulissen, Szenenbilder und Kostüme, in denen die Politdarsteller des Nationalsozialismus sich mit großem Gespür für den Effekt selbst in Szene setzten, waren unmittelbar auf ihre filmische und fotografische Dokumentation ausgerichtet. Dabei war es Eva Braun, die mit ihren berühmt gewordenen, in Farbe mit einer Super-Acht-Kamera auf dem Berghof gedrehten Filmen die private Figur Adolf Hitlers schuf und zugleich den Beginn privater Farbfotografie in Deutschland markierte.
Am fotografischen Kanon der Haltungen, Gesten und Verfasstheiten heutiger Politik hat Andreas Mühe viele Jahre gearbeitet. Er hat Politiker fotografiert, „bis es mir zu langweilig wurde“, wie er sagt. Nun erfindet er sich seinen Teil der Geschichte selbst, und das ist sowohl einer großen Neugier als auch einem fundamentalen Unbehagen geschuldet.
(Magdalena Kröner)

S-1942, "Sissi"
Andreas Mühe, "Sissi", 2012
S-1942, Ansicht vorne
© Andreas Mühe, courtesy Carlier/Gebauer / Bildrecht, Wien
S-1942, Rückansicht
Andreas Mühe, "Sissi", 2012
S-1942, Rückansicht