"Moonstruck"
Gelatinesilberabzug
rückseitig signiert, betitelt, datiert und nummeriert (Bleistift)
Hanns Otte ist ein Reisender.
Wie schon frühere Arbeiten – zum Teil in den USA und in Kanada entstand die Amerika-Trilogie – ist Moonstruck (zu deutsch mondsüchtig) das Produkt einer Reise, eines längeren Aufenthaltes in Rom. Hanns Otte bereist aber nicht nur fremde Städte, Reisender ist er auch in seiner ihm unmittelbar nächsten Umgebung. Seine Aufmerksamkeit gilt dabei auch den Zwischenräumen und dem Abgewandten, das auch als das scheinbar Nächstliegende neu zu entdecken ist.
Reisende sind Fremde.
Auf diese Weise streift er durch die Salzburger Vorstädte ebenso Wie durch die Hinterhöfe und Parkdecks amerikanischer Großstädte. Das Erlebnis einer unfreiwilligen Nacht im Freien, in der Nane von Chicago, veranlaßt ihn, bewusst die Umgebung von Salzburg des Nachts zu durchwandern. Er erfährt diese Gegend als Ergebnis einer Serie von Blitzlichtaufnahmen erst in der Dunkelkammer. Eine unbekannte Welt erschließt sich. Fremd sind ihm die Orte seiner Reisen, fremd, was dem Auge ist, aber gewohnheitsmäßig übersehen wird. Hanns Otte lehrt das Auge, dieses auch wirklich zu sehen. Und die Nebenschauplätze, egal wo er sie aufnimmt, scheinen sich zu gleichen. Einheit stiftet der Beobachter mit seiner Kamera, erkennt sich und möchte darin erkannt sein. Was ins Bild gesetzt ist, wird objektiviert und vorzeigbar. Der Fotograf erkennt mit Hilfe der Kamera, erkennt sich und möchte darin aucn erkannt sein. Seine ansonsten fast menschenleeren Bilder verweisen auf ihr Gegenüber – auf ihn. Dass da einer ist, bleibt in manchem Motiv das allein Tröstliche. Der Fotografaut der Reise zu sich selbst.
Mit Pathos hält er 1986 den Satz fest: „Mein größter Wunsch ist, dass jeder, der meine Bilder sieht – mich wirkich sieht.“ Da erzählt einer mit der Kamera eine Geschichte, seine eigene. Im März 1990 ergänzt er diese Aussage mit dem Zusatz: „Bin ich nun ein schreibender Fotograf oder ein fotografieren der Schriftsteller?“ Seit Anfang 1989 hat er seine schriftlich festgehaltenen Selbstbeobachtungen zu umfangreichen literarischen Versuchen ausgeweitet. Das kommt noch dazu.
Textuelle Bezüge sind in den Bildern des Zyklus Moonstruck häufig. In den Fotografien tauchen sie auf als Werbeplakate an Litfaßsäule und Linienbus, als Blick in ein Bücherschaufenster, beiläufig eingefangen, als Wandgraffiti, eine politische Parole oder Verewigungsgekritzel an historischen Orten. Der Einsatz von Schrift wird auch inszeniert, so z. B. das auf dem Tisch liegende Buch (Prolog) oder auch im Foto mit der Illustrierten auf einer Steinbrüstung. Beredte Bilder gibt es auch ohne Worte: Die heranbrausenden Motorradfahrer auf den heruntergelassenen Rollläden eines Ladengeschäftes und ein anderes, es zeigt ein Stück Stoff, einer Mütze ähnlich, das im Schmutz der Straße neben einem breiten Markierungsstrich liegt. Den Titel seines Portfolios entnimmt Hanns Otte dem im Epilog abgebildeten Filmplakat. Durch dieses Vorgehen, die Bestimmung des Inhalts über das Wort, bekommen alle auftauchenden Textteile einen sinnstiftenden Charakter innerhalb ihres Bildbezuges. Nicht nur der Blick des Betrachters, sondern auch die Deutung hat hier einen Fokus. Dann bleibt aber zu fragen, ob nicht gemäß der dramatischen Ordnung über die Bildfolge hinaus – und schon das Anlegen der Arbeiten in Serien ist von großer Bedeutung – ein Kontext entsteht. Im Einzelbild, gerade in jenem mit dem Buch, ist die Anwesenheit von Schrift mächtig, gar übermächtig.
So liegt ein neunzehnteiliges Ganzes vor, eine Bildserie mit Verweisen aufeine tatsächliche und eine übertragene Lesbarkeit. Ein geglücktes Verhältnis von Wort- und Dingvorstellung. Für den Fotografen, den Autor eine Gratwanderung. Eine Reise zwischen Schriftstellerei und Fotografie.
Auch der Schlafwandler ist ein Reisender, denn er ist sich selbst fremd.
(Christian Gögger, aus: Hanns Otte, Moonstruck, 1991)