"Kirigamine"
Nagano, Japan
Platin-Palladium-Druck auf Gampi Japanpapier
rückseitig signiert, betitelt, datiert und nummeriert
Der japanische Fotograf Koichiro Kurita studierte an der Kanseigakuin-Universität in Kobe Wahrnehmungspsychologie und nutzte seine Kamera ausgiebig, um die Funktion des Auges in seiner Forschung zu simulieren, in der er untersuchte, wie Menschen bewegte Objekte unter wechselnden Umständen wahrnehmen. Als junger Mann arbeitete er für eine Werbeagentur in Tokio, bevor er ein erfolgreicher unabhängiger Fotograf und Regisseur von Werbespots wurde. Im Alter von vierzig Jahren, angeregt durch die Lektüre des Buches Walden des amerikanischen Philosophen und Schriftstellers Henry David Thoreau (1817–1862), beendete Koichiro Kurita seine lukrative Karriere, um seine Fotografie ganz auf meditative Ausdrucksformen seiner Verbundenheit mit der ländlichen Natur auszurichten. Er konzentrierte sich auf großformatige Landschaftsfotografie und zog sich in ein Studio in den Yatugatake-Bergen hundert Meilen nordwestlich von Tokio zurück, wo, wie er schreibt "das Gefühl Walden war". Nachdem er ein Stipendium des Asian Cultural Council erhalten hatte, das von John D. Rockefeller III gegründet wurde, um den internationalen Dialog zwischen asiatischen und amerikanischen Künstlern und Wissenschaftlern zu fördern, konnte er in Kanada, den Vereinigten Staaten und Großbritannien reisen und fotografieren.
Seit 1993 unterhält Kurita Studios in New York, Massachusetts und Fukusumi und konzentriert seine Eindrücke von der Natur – stille Wälder in Neuengland, abgelegene Seen und Felsen in den Boundary Waters in Minnesota und Kanada oder Naturmerkmale in Kalifornien –, indem er poetische Details aus der größeren Landschaft extrahiert. Dabei verwendet er fotografische Edeldruckverfahren aus dem 19. Jahrhundert, um monochromatische Abzüge herzustellen. Seine eigenhändigen Platin Palladium-, Albumin- und Salzpapierabzüge auf handgeschöpften Gampi-Papier, welches aus der Rinde des japanischen Gampi-Baumes hergestellt wird, verstärken die Zartheit und subtile Resonanz seiner Bilder und verbinden historische und doch zeitlose Qualitäten mit seiner zeitgenössischen Vision.
Seine Aufnahmen, wie das Werk Fall, zeigen die Natur, wie er sie im Sinne von "Chi Sui Ki" (地 水 気), oder Terrasphäre, Hydrosphäre und Atmosphäre sieht, und die Grenzen, die jeder dieser Bereiche miteinander und mit allen Lebensformen teilt. Kuritas laufendes Projekt Beyond Spheres (Jenseits der Sphären) handelt von seiner visuellen Reise, um Thoreaus Wahrnehmungen zu verstehen, während er den Spuren des Schriftstellers durch Neuengland folgt. Es ist die logische Fortsetzung von Kuritas fortwährender Suche nach einer Antwort auf die Frage: "Was wäre, wenn Thoreau ein Fotograf gewesen wäre?"
In Kuritas Worten besteht das Ziel des Projekts darin, "Thoreaus ldeen und Schriften durch den Einsatz fotografischer Techniken eine bildliche Form zu geben, indem er die von seinen Zeitgenossen verwendeten Edeldrucktechniken anwendet". Weiter erklärt er: "lch habe zwei Mentoren. Der eine ist Henry David Thoreau, der dazu drängte, die Beziehung zwischen Natur und Mensch neu zu erleben. Der andere ist Henry Fox Talbot (1800–1877), der lehrte, was Fotografie ist. Beyond Spheres ist ein Projekt, das am Ende eine Dankesrede an meine beiden Mentoren sein wird, denen ich nie begegnet bin."
Talbot beschrieb seine Arbeit als photogenes Zeichnen, "die Bilder der Naturmalerei. die die Glaslinse der Kamera in ihrem Fokus auf das Papier wirft" - die Fotografie als Bleistift der Natur (the pencil of nature), eine Formulierung, die er als Titel für sein Buch verwendete, das von 1844 bis 1846 in Fortsetzungen erschien. Das Erscheinen des Buches nur ein Jahr bevor Thoreau nach Walden Pond zog, um dort auf einem von seinem Freund, dem Schriftsteller Ralph Waldo Emerson, erworbenen Grundstück zu leben, ist für Kurita von Bedeutung. Kuritas photogene Zeichnungen, die durch seine interpretation von Thoreau und der Natur angeregt werden, sind seine eigenen Meditationen des Lebens mit den Mitteln der Kunst.
Kurita lässt sich von Thoreaus Analogie des Blattes als grundlegende Einheit inspirieren. die das Gefüge der Natur aufbaut und eint: Er versucht, die Erde. Flüsse, Vögel, Menschen und verschiedene Dinge in der Welt als "Blätter" zu beschreiben. Dies führt zu der Erkenntnis dass die verschiedenen Dinge in dieser Welt ein gemeinsames Urbild haben… In gewissem Sinne ist alles miteinander verbunden und steht in einer Beziehung. Hier ist eine große Perspektive der Natur, die über die japanische oder westliche Sicht der Natur hinausgeht. Begriffe wie "Natürliche Auslese" oder "Überleben des Stärkeren" werden assoziiert mit einer Wettbewerbsgesellschaft, in der die Wirtschaft im Vordergrund steht. Unser gegenwärtiges soziales Umfeld ist ein Wettbewerb um die Herstellung und den Umlauf vieler Produkte, während die Welt ihrer Ressourcen beraubt wird. Unser Verhältnis zur Gesellschaft und zur Umwelt sollte nicht konkurrieren, sondern sich ergänzen, der Harmonie einen hohen Stellenwert einräumen und sich in einen ruhigen und "einfachen gemeinsamen Lebensraum" verwandeln. Das ist der Geist von Beyond Spheres.
(Jane Bianco, aus: Johanna Breede PHOTOKUNST, Koichiro Kurita, 2023)